Montag, 15. Dezember 2003
Prinzipielle Argumente zum Streik
http://jan.spline.de/streik/downloads/prinzipielle_argumente_zu_einem_streik.rtf

Streiks haben die Angewohnheit, immer plötzlich über das Leben der Studierenden hereinzubrechen. Der gerade mühsam aufgestellte Stundenplan für das Semester, mühsam erloste Praktika in den naturwissenschaftlichen Fächern, die Planungen für Referate und Hausarbeiten sowie die zum Erhalt des BAföG notwendige Planung der Semesterzahl sind auf einen Schlag zunichte gemacht. Den meisten Studierenden wird der Streik wie ein Übel erscheinen, das in ihr wohl geplantes, privates und studentisches Leben eingreift. Und die Mehrheit aller Studierenden würde wohl lieber ihre Fächer studieren, als sich mit hochschul- und allgemeinpolitischen Themen wie der Haushaltsfinanzierung auseinander zu setzen.


Warum also streiken?

Angesichts der drängenden Fragen - Stellenkürzungen in allen Bereichen der Universitäten, Streichung ganzer Institute, der „Verschlankung“ der Lehrpläne auf den „Mainstream“, der Einführung von Bachelor- und Masterstudiengängen sowie der Einführung von Studiengebühren und der zunehmende Abbau demokratischer Entscheidungsstrukturen an den Hochschulen - welche andere Möglichkeit als einen Streik hat die Studierendenschaft, um ihre Interessen erst einmal zu finden, zu formulieren und zu vertreten? Zumal rechtlich und politisch so gut wie keine Beteiligung an hochschulpolitischen Entscheidungen von Seiten der Studierenden mehr vorgesehen ist?


Die Frage der eigenen Finanzierung

Für jede und jeden gilt es nun abzuwägen, was durch einen Streik zu verlieren und was zu gewinnen ist. Auf der einen Seite stehen vor allem finanzielle Argumente, denn auch ein Streiksemester muss finanziert werden und das BAföG-Amt kontrolliert inzwischen von vielen Studierenden ihre Leistung, gemessen in Scheinen und Prüfungen pro absolviertem Semester. Zudem wird sich das Studium durch einen Streik erst einmal verlängern. Doch diese, auf den ersten Blick offensichtlich erscheinenden Nachteile und am häufigsten angeführten Argumente gegen einen Streik, müssen genauer hinterfragt werden. Denn was kommt auf die Studierenden zu, wenn nicht gestreikt wird und die Kürzungen jetzt und in der nahen Zukunft immer weiter gehen?

Eines sollte allen klar sein: bei den angekündigten Kürzungen wird es in den nächsten Jahren nicht bleiben. Das zeigt besonders deutlich ein Rückblick auf die letzten 10 Jahre: Die erste Kürzungswelle traf die Berliner Universitäten 1993 in Form des Hochschulstrukturplans. Die Universitäten wurden zur Anerkennung der Einsparungen damit gewonnen, dass ihnen im Gegenzug eine langfristige Planungssicherheit ohne weitere Kürzungen versprochen wurde. So sollte die Verkleinerung von Instituten oder deren Wegfall planbar und berlinweit koordinierbar sein. Die nächste Kürzungswelle kam aber schon mit dem Haushalt 1996 und die folgende mit dem Doppelhaushalt 1997/98. Und jedes Mal wurde Planungssicherheit versprochen, behielt sich der Senat von Berlin eine einseitige Kündigungsklausel der Hochschulverträge vor und jedes Mal ließen sich die Hochschulen auf die Verträge ein, weil sie hofften, Schlimmeres abwenden zu können.

Die Kürzungen der letzten Jahre haben schon jetzt ein reguläres Studium so gut wie unmöglich gemacht. Die Regelstudienzeit, die ehemals angab, in welcher Zeit ein Studium inklusive Abschlussprüfungen für einen Studierenden abschließbar sein sollte, ist für kaum einen mehr erreichbar. Damit ist auch durch BAföG, das mittlerweile an diesen Mindeststudienzeiten gemessen wird, ein Studium nicht mehr allein zu finanzieren. Durch die nun anstehenden Kürzungen und die in naher Zukunft sicherlich noch folgenden, wird sich die Studienzeit aller Studierenden weiter verlängern.


Streik – eine persönliche Investition

Damit stellt sich die Frage nach dem zeitlichen und finanziellen Argument neu. Denn wenn die Kürzungen ohnehin zu einer Verlängerung des Studiums über die Regelstudienzeit hinaus führen und damit zu der Notwendigkeit, neben dem Studium für den Lebensunterhalt zu arbeiten, dann kann genauso gut für die Finanzierung eines Streiksemesters gearbeitet werden. Daran knüpft sich die Hoffnung, dass ein Streik für die Studierenden erfolgreich verläuft und nicht nur bestehende Sparvorschläge zurück genommen, sondern dass die gesamte Hochschulfinanzierung und –strukturplanung neu überarbeitet werden. Unter der Bedingung eines erfolgreich verlaufenden Streikes verbessert sich die Studiensituation und damit verkürzt sich mittelfristig auch die Studienzeit für die einzelnen Studierenden wieder. Der Verzicht auf ein Studiensemester zu Gunsten eines Streiks stellte damit eine Investition für den weiteren Studienverlauf dar, die sich durchaus rechnen kann.

Der entscheidende Haken ist an dieser Stelle das Wörtchen „kann“. Denn niemand garantiert, dass ein Streik tatsächlich zu einer Verbesserung an den Universitäten führt. Es bleibt also die Kriterien zu bestimmen, die einen positiven Streikausgang wahrscheinlich machen und die der Entscheidungsfindung in Form der Abwägung des Nutzens für den einzelnen Studierenden dienen können.


1. Die solidarische Mehrheit

Ein Streik muss von einer großen Anzahl der Studierenden getragen werden. Nur eine große Gruppe von Studierenden hat die Kapazitäten, einen Streik inhaltlich zu gestalten und organisatorisch durchzuführen. Eine kleine, streikende Minderheit hingegen opferte nur ihre Zeit für die Mehrheit, die weiter studierte, ohne dabei irgendetwas zu erreichen.

2. Aktiver Streik

Streiken heißt, sich aktiv mit dem eigenen Fach, den hochschulpolitischen Rahmenbedingungen von Universität, Finanzierungskonzepten und alternativen Entwürfen von Universität auseinander zu setzen. Nur so ist die Erarbeitung differenzierter Konzepte möglich, mit denen Studierende sowohl auf Ebene des Fachbereichs als auch auf Landespolitischer Ebene den meist konservativen Vorstellungen von Hochschule argumentativ entgegen treten können. Nur unter aktiver Teilnahme der Studierenden ist ein Streik Erfolg versprechend.

3. Entschlossenheit

Ein Streik, das haben vor allem die erfolglos verlaufenen letzten beiden Streiks gezeigt, muss konsequent durchgeführt werden, sowohl in der inhaltlichen Auseinandersetzung als auch in der Schaffung von Freiräumen zur Erarbeitung von Konzepten. Die Besetzung von Gebäuden für mindestens 2 Wochen scheint dabei unentbehrlich, um sowohl Zeit als auch Räumlichkeiten für Veranstaltungen, Diskussionen und Arbeitsrunden zu gewinnen. Und das heißt auch dort schlafen und die geschaffenen Freiräume gegen Polizei und Wachschutz zu verteidigen, welche in den letzten Streiks immer wieder versucht haben, die besetzten Gebäude zu räumen.


4. Selbständigkeit und Eigenbeteiligung

Alternative Seminare müssen selbstständig organisiert werden. Es wird kein Dozent vorne stehen, der einen Seminarplan aufstellt und die Literaturliste bereit hält. Und auch die wenigen asta-ReferentInnen können diese Funktion nicht ausfüllen. Eigenbeteiligung heißt hier, sich über Themen, Literatur, Erarbeitungsformen sowie Methoden der Ergebnissicherung zu einigen, als auch die Ergebnisse in weiten Teilen der Studierendenschaft bekannt zu machen. Dies bedeutet einerseits eine große Herausfordernd, weicht eine solche Seminarstruktur doch von den gängigen Lehrveranstaltungen ab, andererseits stellt sie aber auch einen großen Freiraum in Punkto selbstständigen Erarbeitens von Inhalten dar.

Sind diese 4 Punkte erfüllt, so hat ein Streik große Chancen auf Erfolg und die eigene Beteiligung ist damit eine Investition in die eigene Zukunft.


Streik – einen gesellschaftliche Investition

Über den persönlichen Nutzen hinaus ist noch die gesellschaftliche Komponente bei der Entscheidung für oder wider einen Streik zu bedenken. Denn jeder gestrichene Studienplatz führt bei der derzeitigen Arbeitsmarkt- und Ausbildungsplatzlage in Berlin unweigerlich zu einem weiteren Empfänger von Arbeitslosengeld oder Sozialhilfe. Jedes Institut, dass jetzt von den Studierenden der Streichung überlassen wird, ist zudem für kommende Studierendengenerationen verloren. Neben dem Wegfall von Ausbildungsplätzen wird ebenso die freie Wahl eines solchen weiter unterminiert und die folgende Generation in ihren Möglichkeiten beschnitten.

Weiterhin können die Kürzungen an den Berliner Universitäten nicht als vereinzeltes Phänomen betrachtet werden, sondern stehen in Zusammenhang mit Kürzungen im gesamten Bildungs- wie auch Sozialbereich. Ein breites Bündnis von gesellschaftlichen Gruppen ist hier notwendig, um Ziele und Aktionen zu koordinieren. Und auch um sicher zu stellen, dass eine durch einen Streik erreichte Aufstockung des Hochschuletats nicht zu Lasten anderer, vor allem sozial- und bildungspolitischer Einrichtungen in Berlin geht.

Die Einführung von Studiengebühren und eines kostenpflichtigen Master-Studiums verstärkten zudem die jetzt schon weit fortgeschrittene Tendenz, dass auf Grund mangelnder Finanzierbarkeit ein Studium nur von Kindern einkommensstarker Eltern angetreten wird. Vergleichsstudien mit anderen Ländern belegen dies nachdrücklich. Einer solchen Entwicklung muss politisch entgegen gewirkt werden, anstatt sie noch weiter zu verstärken.

All diese Punkte werden sich mittelfristig auf die gesamtgesellschaftliche Lebensqualität auswirken, und zwar negativ. Für die meisten Studierenden wird eben dies ihre zukünftige Lebensqualität sein. Zudem kann niemand jetzt schon voraus sagen, ob er oder sie nach dem Studium nicht auch zu einer der Gruppen gehören wird, die von den gegenwärtig geplanten Kürzungen im Bildungs- und Sozialbereich betroffen sein wird. Niemand sollte so gutgläubig sein, dass allein ein Universitätsabschluss einen späteren Arbeitsplatz sichert.

Die Entscheidung, sich am Streik zu beteiligen, oder sich zumindest solidarisch zu erklären, ist und bleibt eine persönliche. Doch angesichts der genannten Argumente scheint die aktive Teilnahme am Streik mittel- und langfristig die einzig positive Alternative.

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