Donnerstag, 22. Januar 2004
Pressemitteilung: Ministerpräsidentskandidat bricht mit Partei
Offener Brief an die Sozialchauvinistische Partei Deutschlands (SPD)

Liebe GenossInnen!

Dass Sie sich in den letzten Jahren und Monaten nacheinander von fast allen sozialdemokratischen Grundsätzen getrennt haben ist ja bekannt - und soll hier auch gar nicht weiteres Thema sein. Vielleicht nur soviel: Im Lexikon findet man unter dem Begriff Reform eine Erklärung, die vermuten lässt, dass das, was Sie seit einiger Zeit treiben, ehrlicherweise als Gegenreform bezeichnet werden muss; kurzum: Etwas, das wenigen nutzt und vielen Schaden zufügt. Neu ist allerdings, dass sie dieses Verhalten nun auch in einem bisher relativ verschont gebliebenen Bereich anstrengen, das deutsche Bildungssystem endgültig ruinieren wollen, wie es scheint. Denn: Erst brechen Sie eine Debatte über Elite-Universitäten vom Zaun, die kaschiert und wohl auch kaschieren soll, wie schlecht es momentan tatsächlich um die deutschen Hochschulen steht; verabschieden sich vom sozialdemokratischen Grundwert, dass es „allen“ besser gehen soll und resümieren für sich: Gut ist das, was vor allem wenigen nützt.
Und dann rücken Sie, nachdem Sie uns allen die Hucke vollgelogen haben, ein paar Tage später doch noch mit der vorpräparierten Wahrheit heraus: Elite ginge nicht ohne Gebühren. Ja, sorry, aber Studieren wäre wohl ab sofort nun nicht mehr für jedermann. Wieso auch? War das früher etwa mal so - oder irgendwann einmal "gerecht"?

Ihr Ministerpräsidentskanditat für Thüringen und 1. Staatssekretär der Bundesbildungsministerin brachte es am gestrigen bei einer Diskussion in Erfurt rigoros auf den Punkt: Während uns in Weimar Vertreter der Landes-SPD vor gut 800 Gästen beteuerten, wer Studiengebühren fordere, sei dumm und asozial, tat Kollege Matschie zielstrebig eben dies. Erklärte auf einer Veranstaltung mit dem Titel „Wie der Phönix aus der Asche – die Elite-Universität Erfurt“, Studiengebühren seinen zwingend "mitzudenken"; gehörten einfach in die momentane Bildungsdiskussion.

Liebe GenossInnen, ich kann, möchte und muss Sie auch und gerade im Interesse Ihrer eigenen Partei daher dringed ersuchen:

1. Lassen Sie nicht zu, dass sich Herr Matschie während er öffentlich völlig redundante Phönix-Märchen verkündet, die mehr nach einer Lesung des 5. Harry-Potter-Bandes denn bildungspolitischer Realität anmuten, weiter die Finger an der Denklücke zwischen seiner Phantasie und dem Studierendenalltag verbrennt.
2. Als auch und vor allem: Werfen Sie solche Leute bitte umgehend aus Ihrer Partei. Oder aber: Erklären Sie uns, wie es zwei Stunden vor Matschies Eskapaden noch heilige und öffentlich bekundete „Parteimeinung“ sein konnte, dass solche Dummheiten nur außerhalb Ihrer Partei überhaupt ansprechbar sind.

Liebe SPD, ehrlich: Es ist an der Zeit, etwas zu tun. (Und, noch ein wenig ehrlicher: Gänzlich anderes als das, was Sie oder Herr Matschie momentan tun.) Es ist dringend an der Zeit, etwas "für" das deutsche BILDUNGSSYSTEM und somit endlich einmal wieder "für" die Menschen in diesem Land zu tun. Für alle wohlgemerkt - nicht nur Parteigenossen, Harry-Potter-Fans, Dummschwätzer oder vermeintliche Eliten (die übrigens eigenartigerweise nirgendwo ausser in den Führungsetagen der Wirtschaft, in welchen, während wir nun für schlechte Studienbedingungen zur Kasse gebeten werden sollen, noch eigenartigerweise gar niemand mehr Steuern zahlen muss, zu finden sind)!

Ja, wie konstatierte doch ein Kommilitone nach unserer gestrigen parteiübergreifenden politischen Diskussion in der Mensa der Bauhaus-Universität: „Die Wahl sollte als Chance und Drohung gesehen werden - für diejenigen, die um ihre Stimmen zu fürchten haben.“ Und, ehrlich: Seit allerspätestens vor wenigen Minuten sind dies nun auch Sie.

Mit freundlichen Grüssen
Jens Wernicke
Referent für Hochschulpolitik des Studierendenkonvents der BUW

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Zum Kotzen
Der Ton, in dem hier selbstgerecht, überheblich und anmaßend, Leute niedergemacht werden, die nicht dem eigenen Weltbild folgen, finde ich zum Kotzen.
Es zeugt im übrigen von grassierendem Realitätsverlust. Während Politiker aller Parteien (einschließlich der PDS - siehe Berlin) beim Blick in die Haushaltsabgründe nach Alternativen suchen, pfeift der liebe Herr Wernicke fröhlich das Lied »Weiter so, nur mehr davon.«

PS: Was würde eigentlich passieren, wenn es ab morgen Trinkwasser umsonst gäbe. Also der Staat sämtliche Kosten tragen würde?

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Lieber „brauns“,
vielen Dank, dass du uns der Realität näher gebracht hast, noch dazu in so einem guten Ton!

Alternativvorschläge können hier veröffentlicht werden.

Gruß Michael

PS: Was würde eigentlich passieren, wenn wir morgen Atemluft-Gebühren bezahlen müssten?
Lass uns zum Thema zurückkommen!

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Ich bleibe beim Wasser
Lieber Michael,
das mit dem Ton: geschenkt. Wie es in den Wald hineinruft, …
Aber ich bleibe beim Wasser. Die Behauptung, Bildung sei ein Grundrecht, dass kostenlos zur Verfügung gestellt werden muss, übersieht, dass es sie nicht kostenfrei gibt und nirgendwo steht, dass allein der Staat für dessen Bereitstellung zu sorgen hat. Trinkwasser, Brot und viele andere lebenswichtige Dingen gibt es auch nicht unentgeltlich. Bedürftige werden unterstützt, aber nicht das Gut generell »verschenkt«. Auch die Eintrittskarte im Theater (um ein anderes Kulturgut zu nennen) kostet (wenn auch nicht kostendeckend) Geld.
Was passiert, wenn Güter weit unter den realen Kosten angeboten werden und der Staat irgendwie versucht, die Defizite auszugleichen, kann man im übrigen historisch sehr gut im Wohnungsbau der DDR studieren.
Diesen Argumenten muss niemand folgen. Man kann sich auch darüber beschweren, dass Sozialdemokraten (Christdemokraten, Grüne, FDPler sowieso) so etwas vertreten. Aber dann ganze Parteien als sozialchauvinistisch zu verunglimpfen, geht für mich entschieden zu weit.
Nur darauf bezog sich meine Antwort.

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Selbst ein Egoist,
sofern er nicht zu kurzsichtig ist, muss erkennen, dass die Bildung seiner Mitmenschen, anders als deren Brot und Wasser, auch wichtig für ihn selbst ist. Was Brot und Wasser für den Einzelnen, ist die Bildung für die Gesellschaft.

Ein sehr Weitsichtiger Egoist würde sogar erkennen, dass auch Brot und Wasser entscheidend zum Zusammenhalt der Gesellschaft, in die auch er eingebunden ist, beiträgt. Bis zu diesem Punk gibt es also keine Egoisten und Altruisten, sondern nur schlaue und dumme Egoisten. Oder anders: gebildete und ungebildete Egoisten. (Wünschenswert wäre trotzdem eine Einsicht ohne zu fragen „was bringt es mir?“)

Das Wasser: Stell dir ein armes Land vor, in dem die meisten Leute zu wenig verdienen, um in einem Haus mit Wasseranschluss zu wohnen. Wenn dort mal alle so viel verdienen, dass sie sich eine Wohnung mit fließendem Wasser leisten könne, wird es wohl keine öffentlichen Brunnen mehr geben. Wenn also in Deutschland alle soviel verdienen würden, dass sie Bildungsgebühren von 6800€ pro Studien- und Schuljahr*. bezahlen können, wird es die öffentlichen Bildungshähne vielleicht auch nicht mehr geben. Konsequenter Weise aber erst wenn das Einkommen keine Rolle mehr auf die Qualität der Ausbildung haben würde. Ich bekomme ja auch kein schlechteres Wasser, wenn ich weniger verdiene.

Kurze Anmerkung zum Kino: ohne die Filmförderung gäbe es viele gute deutsche Filme wohl nicht, oder die Eintrittskarten wären unbezahlbar. Stattdessen müssten wir wohl die ganze Zeit Big Brother und seine Superstars zu schauen.

Was die DDR angeht bin ich kein Experte, aber ich glaube, dass das DDR-System auch ohne Sozialem Wohnungsbau nicht funktioniert hätte. Schon eher aber mit weniger Ausgaben für die Stasi.

Keiner behauptet, dass Bildung kostenlos ist im Sinne „wir machen uns keine Gedanken über die Finanzierung“. Die Finanzierung muss aber mit einer geeigneten Umverteilung stattfinden, sodass jeder nach seinen Möglichkeiten die gleich Belastung trägt. Auch eine Zeitlich Umverteilung ist sinnvoll, da Kosten in derartiger Höhe schwer auf einmal zu zahlen sind. Solche Umverteilungen finden meist über Steuern statt.

Wenn du eine Experten-Meinung zu Studiengebühren lesen möchtest (was ich hoffe) lese dir mal die Stellungnahme von Dr. Bernhard Nagel (Professors für Wirtschaftsrecht in Kassel) durch. Er kommt auch am 4.2.04 nach Weimar (siehe Aktionsübersicht)

Die Bundesregierung ist verantwortlich, für die Herstellung von einheitlichen
Lebensverhältnissen in Deutschland, das steht im Grundgesetz**. Dazu dient auch das Verbot von allgemeinen Studiengebühren, welches von vielen Landesregierung als verfassungswidrig angesehen wird. Hier ist die Bundesregierung nett zu uns. Dagegen ist die Idee der Elite- oder Spitzen-Universitäten wieder sehr fragwürdig. Das Argument „es ist kein Geld da“ wird damit unglaubwürdig. Die Landesregierungen nutzen diesen Widerspruch aus, um die Studiengebühren zu begründen.
Einig sind sich Landes und Bundesregierung lediglich darin, dass der jeweils andere für die Missstände verantwortlich ist. Die einzige Möglichkeit aus diesem Spielchen „die Andern sind schuld“ herauszukommen ist, alle zusammen anzusprechen: die gesamte Partei, und die gesamte Regierung (wir selbst müssen natürlich auch was machen, was wir ja gerade tun). Das führt natürlich zu einer Verallgemeinerung, die hier aber nicht zu vermeiden ist. Die gesamte Partei nennt sich „sozialdemokratisch“. Weder Elite (auch wenn sie mit Spitze umschrieben wird), noch Abhängigkeit von Einkommen und Bildungschancen, lassen sich mit diesem Begriff vereinbaren. Eher erinnern sie an Evolutionstheoretische Termini wie „Alpha Männchen“ oder das Überleben des Fähigeren. Gemeinschaftssinn, Rücksicht, Mithilfe haben hier noch wenig Platz. „Sozialchauvinisten“ ist natürlich provokativ, aber letztlich auch nur das, was „wieder aus dem Wald heraus ruft“(oder wie geht der Spruch zu ende?).
Provokation hin oder her, wie du siehst kommt man so ins Gespräch, und das ist das entscheidende: Den Mund auf machen, mitdenken, zuhören, Mund auf... ! Nicht in der Ecke irgendwas vor sich hin grummeln oder weghören.
Deswegen bin ich Jens sehr dankbar, weil er nicht müde wird den Mund aufzumachen.
Auch Danke an dich, dass du deine Meinung hier kund getan hast und ich hoffe die Argumente sind verständlich.

Grüße
Michael



* 81.293 Mill. € Ausgaben der öffentlichen Haushalte für Schulen, Hochschulen und übriges Bildungswesen (2000)
ca. 10 Mill. Schüler + ca. 2 Mill Studenten
Quelle: Statistisches Bundesamt

** Artikel 72 [Konkurrierende Gesetzgebung]
(2) Der Bund hat in diesem Bereich das Gesetzgebungsrecht, wenn und soweit die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet [...] eine bundesgesetzliche Regelung erforderlich macht.
Quelle: Bundesregierung-Online

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